Moskau – zwischen gestern und morgen
Die Reiseleiterin hat uns soeben eingeschärft. Mit dem Sicherheitspersonal auf dem Kreml-Gelände ist nicht zu spassen. Ihr also brav nachtrotten. Kommt eine Staatskarosse angebraust, dann durchfahren lassen. Fussgängerstreifen hin oder her. Aber wie das mit Touristen ist: Es gibt immer einen, der Warnungen lieber am eigenen Leib austesten will. Vielleicht ein Schweizer Rebell? Wir haben den Grossvater aus unserer Gruppe nicht nach seinem Motiv gefragt. Gerade überqueren wir die Strasse vor dem Kreml-Palast, da kommt tatsächlich ein schwarzer Wagen angefahren. Der Uniformierte am Fussgängerstreifen hebt den Stock hoch. „Stoi!“ Bebbin und Meenzer bleiben erschreckt stehen. Nicht so der Grossvater. «Das kommt nicht gut», flüstert die Bebbin. Und tatsächlich. Schon findet sich der Grossvater Nase an Nase mit dem Uniformierten wieder. Die Augen des Mannes unter dem Schild seiner Mütze sind sibirienblau und sein Blick messerscharf. Stille legt sich über uns wie eine gläserne Zarenglocke. Beide schweigen. Keiner von uns regt sich.
Die Staatskarosse fährt vorbei. Der Mann tritt zur Seite. Bebbin und Meenzer atmen vorsichtig aus und machen einen Schritt. Der Grossvater und der Rest der Truppe retten sich zum anderen Strassenufer. Was sollen wir sagen? Ein Hauch von Sibirien zog vorbei.
Wie gesagt. Ausserhalb dieser Mauern ist es gemütlicher. Am Ende des Roten Platzes prangt die Basilius-Kathedrale, ein Traum in Rot, Grün, Blau, Inspiration für jeden Konditor und Touristen.
Unweit davon Moskaus berühmtestes Kaufhaus Gum mit Galerien, Brückchen, Geschäften, die nicht für uns gemeines Fussvolk bestimmt sind. Aber für ein paar Blinis, roten Kaviar, saure Sahne und einen Kaffee reicht das Geld allemal.
Mit diesem Geld könnte man 20 Mal durch das gesamte Metro-Netz fahren. Was wir auch tun. In einer Nacht ohne Nebel-Aktion wird unsere viel zu grosse Pauschalreisenden-Truppe durch den Untergrund gejagt. Rolltreppe runter, rein in die Bahn, nächste Haltestelle raus, bewundern, knipsen und wieder rein. Mit 70 Sachen durch die Nacht rasen, aussteigen, bewundern, knipsen …
Der Bebbin gefällt es. Die Bebbi-Mama klammert sich ängstlich an ihre Bauchtasche. Der Meenzer knipst über alle Köpfe hinweg und behält den Überblick.
Und o Wunder. Obwohl gemäss Statistik durchschnittlich ein Zehntel der Touristen während Führungen verloren gehen, gelangen wir alle vollzählig wieder ans Moskauer Nachtlicht. Und reiben uns die Augen.
Weihnachtsbeleuchtung? Anfang September? Die Moskauer sind ihrer Zeit offenbar nicht nur architektonisch gesehen definitiv voraus. Die Meinung in der Truppe aber ist einheitlich: Manchmal ist weniger doch mehr.
Vielleicht hätte der geneigte Leser, die geneigte Leserin mehr vom russischen Leben erfahren wollen. Von den als Chorsänger getarnten Opernsängern, deren Volkslieder nicht mehr als solche zu erkennen sind. Von der als Arbeitslosenunterstützung getarnten Nothilfe. Von den Wohnungen, die nach der Wende einfach «privatisiert» wurden und ohne jegliche Gegenleistung in den Besitz der damaligen Wohnungsinhaber übergingen. «Wir haben vier Wohnungen», sagt die Reiseleiterin. Die Bebbin runzelt die Stirn. Wir? Die wenigsten Russen können sich mehr als eine Wohnung leisten, und von denen spricht man nicht. Tatjana schiebt ihre Sonnenbrille in die blonde Mähne zurück. «Ich habe eine Wohnung, meine Eltern haben eine, meine alleinstehende Tante und ein Cousin. Das sind vier Wohnungen.» Der Meenzer, Experte in mathematischen Fragen, nickt zustimmend. Vier, ohne Frage. Unsere Erkenntnis? Eigentum ist eine Frage der Perspektive.
Den Moskauern geht es immer besser und das freut uns. Doch gerne hätten wir gewusst, wie es jenen ergeht, die irgendwo in den weiten Wäldern des Landes leben. Die sich nicht von Blinis und Kaviar ernähren, sondern von Buchweizengrütze. Die in ihren Datschas ihren eigenen Kohl ziehen und durch deren hübsch geschnitzte Fenster Väterchen Frost ihnen den Marsch bläst.
Wir werden nie wissen, wie es jenem Mütterchen geht, das sich vor der wundertätigen Ikone zehnmal bekreuzigt und diese ehrfurchtsvoll geküsst hat. Aber wir wünschen ihr, dass ihr Gebet erhört wird. Von dieser oder jener höheren Macht.
Ein Gedanke zu „Moskau – zwischen gestern und morgen“
So viel Informationen, so viel Erinnerungen, so kurzweilig und humorvoll verpackt … und so viele ausgezeichnete Bilder dazu … chapeau und vielen Dank für eure effiziente Teamarbeit. Alles natürlich kein bisschen übertrieben oder erdichtet! Die Bebbi-Mama freut sich und hofft auf noch wenigstens eine Episode zum Geniessen und immer wieder lesen . 🤩