Auf der schönen blauen Wolga
Über diesen Fluss müssen die Bebbin ein paar Worte und der Meenzer ein paar Bilder verlieren. Wer sich bereits in der grossen weiten Welt herumgetrieben hat, wird vielleicht nur freundlich blinzeln. Doch die Bebbin, die sich mit allen Wassern gewaschen sah, ist überwältigt. Nein, die Wässerchen von Nova Scotia können sich mit diesem Strom nicht messen.
Mit seinen 3600 km ist die Wolga der längste Fluss Europas. Sie entspringt einer Höhe – Waldaihöhe genannt – in der Nähe des Dörfchens Wolgowerchowje irgendwo im tiefsten Russland und bildet die natürliche Grenze der christlichen Zivilisation gegenüber den tatarischen und sonstigen Horden.
Wir sitzen auf dem Sonnendeck und lassen die Landschaft an uns ziehen. Wälder ohne Ende, in denen sich einzelne Häuschen, kleine Ortschaften und immer wieder goldene Türmchen verstecken. Tannen und Birken, Schilflandschaften.
Kirchen, die von den neuen Zeiten stehen gelassen wurden. Alte Klöster, die malerisch auf einer Landzunge liegen, und wo immer ein paar Jungs bereit stehen, um uns ein Loblied auf Gott vorzusingen.
Der Meenzer ist beeindruckt. Wenn er doch nur auch so singen könnte! Die Stimme hat er und erlernen könnte er es auch. Nur fehlt es bei uns ganz klar an allem: Der richtigen Kirche, der passenden Ikonenwand und den Mitsängern. Deshalb bleibt es also bei unserem schiffseigenen Wolga-Chor, der sich beim Captain’s Dinner einen frenetischen Applaus holt und als Zugabe „Kalinka“ singen darf.
Um die Wolga ranken sich viele Legenden und gibt es auch die eine oder andere Geschichte zu erzählen. Einst fuhr der Donkosak und Räuber Stenka Rasin mit seinen Kumpanen und seiner jungen Ehefrau Richtung Moskau. Er war frisch verheiratet, frisch verliebt, aber die Kumpanen gönnten es ihm nicht. „Du wirst zum Weichling werden. Was soll aus unserem Führer werden?“, lachten sie.
Das traf. Da antwortete Stenka Rasin. „Ach, was soll‘s, was ist Frauenliebe im Vergleich zu unserer ewigen Freundschaft?“ Und warf seine Braut über Bord.
Harte Sitten. Doch auch in der neueren Zeit ging man mit den Leuten nicht gerade zimperlich um . Sie wurden nicht gefragt. Es wäre auch nicht unbedingt vernünftig gewesen,, gegen Entscheide der Regierung ein Referendum zu ergreifen, sich an eine goldene Zwiebel zu ketten oder einen Sitzstreik auf dem Roten Platz zu organisieren. Denn wie ein Reiseleiter nebenbei bemerkte: Sibirien ist gross.
Die Wolga jederzeit – ausser von November bis Juni – schiffbar zu machen, das war schon immer das Vorhaben aller Zaren und Neuzeit-Zaren. Wolga-Ostsee-Kanal, Rybinsker Stausee, Moskauer Stausee … So fiel die belebte Handelsstadt Kaljasin, mit ihren zweistöckigen Häuschen, den Gärten, dem Markt, schliesslich der Wolga zum Opfer. 1940 flutete die Regierung die Stadt. Es entstand der Uglitzer Stausee und die Stadt verschwand.
Heute ragt nur noch einsam und verlassen der Glockenturm der St. Nikolaus-Kathedrale wie ein Mahnmal an höhere Gewalten aus den Fluten.